Abschlussarbeit zum Diplomkurs der Sigmund Freud Privat Universität Wien Paris:
Counselling und Psychoedukation bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Rechenschwäche – ein Problemfeld, das mehr Beachtung verdient
Eingereicht im März 2011
Inhaltsverzeichnis
3. WAS rechenschwache KINDER Besonders BRAUCHEN
3.2 Berücksichtigung ihrer Gefühlswelt
3.4 Unterstützende Maßnahmen durch das Schulsystem
Rechenschwache Kinder haben es schwer. Erwachsene verstehen sie (das Rechnen betreffend) nicht und sie verstehen eine Menge von dem nicht, was ihnen Erwachsene über die Mathematik im Allgemeinen und das Rechnen im Speziellen vermitteln wollen. Nicht selten hinkt das Fachwissen der KindergartenpädagogInnen und LehrerInnen im Bereich des mathematischen Grundlagenaufbaus und der Vorläuferfertigkeiten leider weit hinter dem notwendigen Maß her, soweit sie sich nicht persönlich besonders mit der Thematik beschäftigen und über ihre Ausbildung hinaus zusätzlich einschlägig fortbilden.
Im Vorschulalter wird Kindern noch nicht wirklich abverlangt, Rechnungen durchzuführen. Allerdings sind sie zumeist schon in der Lage, Anzahlen von eins bis vier spontan zu erkennen und ohne Zählprozess benennen zu können. Diese Fähigkeit wird Simultanerfassung genannt. Bereits bei Babys konnte nachgewiesen werden, dass sie (gemessen an ihrer gerichteten Aufmerksamkeit) auf Unterschiede bei kleinen Anzahlen reagieren. „Bei Säuglingen maß Mack zunächst die Blickdauer bei hintereinander gezeigten Bildern mit gleicher Punktzahl. Nahm diese deutlich ab, hatten sie sich an die Anzahl gewöhnt, dann wurde eine neue Punktemenge wiederholt gezeigt. Stieg die Blickdauer bedeutsam an, schloss Mack, dass sie die Anzahl unterschieden. Das Ergebnis: Babys können eins von zwei, drei oder vier unterscheiden, aber nicht mehr vier von fünf.“ (http://sciencev1.orf.at/science/news/83805, 22.2.2011) Fünfjährige können meist schon in kleinen Zahlenräumen zählen und den Vergleich von Anzahlen im Sinne von „gleich“, „mehr“ und „weniger“ durchführen. Bereits in dieser Altersstufe können besondere Auffälligkeiten beobachtet und eine spielerische Förderung begonnen werden.
VolksschullehrerInnen begleiten Kinder in der Zeit, in der wesentliche mathematische Grundkenntnisse erarbeitet und gefestigt werden. Selbst sie haben im Rahmen ihrer Ausbildung keine verpflichtenden Lehrveranstaltungen zum Thema Dyskalkulie/Rechenschwäche. Rechenschwäche entsteht nie nach der Volksschule, die entscheidenden Bereiche der Symptomatik finden sich zumeist in der Volksschulmathematik. Eine längst fällige Einflechtung dieses Bereichs in den Ausbildungsplan der Pädagogischen Hochschulen würde LehrerInnen dabei unterstützen, früher und sicherer dringend förderbedürftige Kinder als solche zu erkennen. Außerdem könnten sie Eltern dann besser aufklären und sie bezüglich zusätzlicher privater Förderung effizienter beraten.
Neben der Stärkung der fachlichen Qualifikationen jener Personen, die an der Schule mit der Förderung von Kindern mit Rechenschwierigkeiten betraut sind, ist auch die Unterstützung der Eltern von großer Bedeutung. Dazu bedarf es einerseits der Sensibilisierung für die missliche Lage des Kindes, was ein höheres Maß an Wissen um mathematische Grundlagenbereiche notwendig macht. Andererseits ist wichtig, ihnen Informationen über wichtige Aspekte der Förderung zur Verfügung zu stellen.
Diese Arbeit soll die Betreuung von Kindern mit
besonderen Schwierigkeiten im Erwerb der Kulturtechnik Rechnen in den
Mittelpunkt stellen. Die Unterstützung der Betroffenen beschränkt sich in der
gängigen Praxis sehr oft auf Maßnahmen, die man insgesamt unter dem Titel „Üben
und, falls nötig, noch mehr üben“ zusammenfassen könnte. Üben ist mit Sicherheit
eine notwendige Maßnahme im Erlernen, Festigen und Automatisieren mathematischer
Inhalte, kann jedoch bei rechenschwachen Kindern zur Falle werden, wenn die
zugrunde liegenden mathematischen Inhalte nicht verstanden wurden.
Übungssequenzen haben dann leider nur zur Folge, dass Kinder oft unverstandene
Inhalte durch vermehrte Gedächtnisanstrengung über kurze Zeiträume erfolgreich
bearbeiten können. Werden neue Inhalte bearbeitet, scheinen die zuvor vermuteten
Erfolge wieder verschwunden zu sein. Eine vom herkömmlichen Üben abweichende Art
der Unterstützung ist also erforderlich.
Als Grundlage dafür ist eine komplexere Art und Weise der Betrachtung des Phänomens, die in eine vielschichtigere Form der Hilfestellung mündet, notwendig. Counselling als „Unterstützung und Begleitung von Menschen, die nicht unter einer psychischen Störung leiden, aber Hilfestellung in individuellen Veränderungsprozessen oder zu speziellen Fragestellungen der individuellen Entwicklung suchen.“ (Sindelar B., 2009a, S1) bietet eine „…Interventionsform bei Fragen der Erziehung und zur gezielten Hilfestellung in Entwicklungsfragen.“ (Sindelar B., 2009a, S1) an.
In der Betreuung einer betroffenen Familie ermöglichen psychoedukative Maßnahmen eine ganzheitliche Herangehensweise, die einer bestehenden Rechenschwäche gut gerecht werden. Am Beginn stehen „Aufklärung und Information über die Bedingungen, die zur aktuellen Problematik geführt haben, mit dem Ziel, durch besseres Verstehen alternative und adäquate Verhaltensstrategien entwickeln zu können.“ (Sindelar B., 2009a, S2) Wenn es gelingt, mit Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern auf diese Weise neue, effizientere Verhaltensweisen zu erschließen, ist ein wichtiger erster Schritt zur Milderung der Problematik bereits getan. „Dadurch ist eine Stressreduktion zu erwarten und in der Folge eine Stärkung des adaptiven Potenzials des Kindes beziehungsweise Jugendlichen.“ (Sindelar B., 2009a, S2) Kann die Belastungssituation dermaßen entschärft werden, wird das Kind in seinem Selbstvertrauen gestärkt und das vorhandene Repertoire an Maßnahmen zur Bewältigung künftiger Schwierigkeiten gesteigert.
Dem individualpsychologischem Ansatz entsprechend, soll in der vorliegenden Arbeit besonders die Komplexität der Thematik hervorgehoben werden; ausgehend von den unterschiedlichsten Ursachen über die Formen der Diagnostik bis hin zur individuellen Förderung, die stets im Spannungsfeld kognitiver, sozialer, emotionaler und körperlicher Einflussfaktoren zu betrachten ist. „Dabei ist die Position, die bereits die Individualpsychologie Alfred Adlers kennzeichnet, nämlich dass jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit in der unteilbaren Einheit von Körper, Geist und Seele zu erkennen ist, als Ausgangspunkt und Prämisse jedes entwicklungspsychologisches Zuganges zu verstehen.“ (Sindelar B., 2009d, S5)
Es gibt unterschiedliche Ansätze, eine Rechenschwäche (Dyskalkulie) möglichst klar zu definieren und zu beschreiben. In einigen Fällen wird die beobachtbare Symptomatik dargestellt, in anderen werden sehr allgemeine Kriterien angeführt, die im Zusammenhang mit einer Rechenschwäche vorliegen. Einem dritten Ansatz liegt die Intention zugrunde, Rechenschwäche messbar zu machen, also betroffene Kinder von jenen unterscheiden zu können, bei denen keine vorliegt.
Hier einige Kriterien bzw. Formulierungen, welche bei diversen Definitionen von Rechenschwäche und ihrer Eingrenzung verwendet werden:
o auffällig sind nicht die Fehlerarten, sondern deren Vielfalt sowie die Häufigkeit und Hartnäckigkeit des Auftretens
o angeborene oder erworbene Schwäche
o das Ausmaß des Normalen wird überschritten
o Entwicklungsverzögerung des mathematischen Denkens
o bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu finden
o eskalierte und fixierte Rechenschwierigkeiten
o nicht durch eine verminderte Intelligenz bedingt
o Rechenschwäche ist ein abstrakter Sammelbegriff
o so viele verschiedene Rechenschwächen wie rechenschwache Kinder
o trotz angemessener Beschulung
o Kind, das einer Förderung jenseits des Regelunterrichts bedarf
Aufgrund der mitunter wenig konkret gehaltenen Formulierungen liegt nahe, dass es nicht leicht ist, eine Rechenschwäche oder Rechenstörung, wie sie auch genannt wird, zu diagnostizieren; insbesondere in einer für die Praxis der Förderung nützlichen Form.
Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) verwendet bei ihrer Erklärung einer Rechenstörung im ICD 10 (International Classification of Diseases) unter F81.2 eine Diskrepanzdefinition:
„
o Kapitel V: „Psychische und Verhaltensstörungen“ (F00-F99)
o Unterpunkt „Entwicklungsstörungen“ (F80-F89)
o Unterpunkt „Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ (F81.-)
o Unterpunkt „Rechenstörung“ (F81.2)
Dort findet man folgende Beschreibung: „Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“ (Dilling H. und Freyberger H.J., 2008, S290)
Für die Praxis der Betreuung rechenschwacher Kinder ist diese Grundlage der Diagnostik, wie sie von PsychologInnen zumeist herangezogen wird, sehr kritisch zu sehen. Zwei Kinder derselben Schulstufe, die Probleme gleichen Ausmaßes in Mathematik haben, könnten unter Umständen lediglich aufgrund zweier gering abweichender IQ-Werte einmal im Sinne der Diskrepanzdefinition des ICD-10 als Kind mit Rechenstörung und einmal nicht als solches ausgewiesen werden. Welche Erklärung gibt es dann für jenes Kind, das als nicht rechenschwach ausgewiesen wird? Ist es bloß faul oder gar dumm?
„Gerade weil solche „Diskrepanz-Definitionen“ noch immer sehr verbreitet sind, muss ganz deutlich festgehalten werden: Diese Betrachtungsweise gilt in der neueren sonderpädagogischen Forschung als überholt.“ (Gaidoschik M., 2003, S11) Es bedarf im Sinne der ohnehin stark belasteten Kinder eines Umdenkens. Aus pädagogischer Sicht bedarf es nicht der Klassifizierung von Schwächen, sondern der Befähigung von LehrerInnen und Eltern, beachtenswerte Probleme rechtzeitig zu erkennen und entsprechende Hilfestellung zur Verfügung stellen zu können.
Die Kriterien, die bei einer psychologischen Testung zur Diagnose „Dyskalkulie“ bzw. „Rechenstörung“ führen, sind:
o Beim Intelligenztest ein gemessener IQ von mindestens 70.
o Eine geringe erbrachte Rechenleistung unter einem Prozentrang von 10. (Nur 10% aller getesteten Kinder sind gleich gut oder schlechter)
o Ein deutlicher Unterschied zwischen IQ und Rechenleistung (Standardabweichung: mind. 1,5)
Vereinfacht könnte man sagen, dass bei einem Kind eine „Rechenstörung“ diagnostiziert wird, wenn es nicht so gut rechnen kann wie aufgrund seiner gemessenen Intelligenz zu erwarten wäre.
Ein wesentlicher Kritikpunkt bezüglich dieser Art der Betrachtung besteht darin, dass die Qualität der Rechenleistung nur von Ergebnissen eines standardisierten Tests abgeleitet wird. Keine Berücksichtigung erfahren die Denkweisen und Rechenwege, die zu Resultaten geführt haben, wobei das Hinterfragen genau dieser (Denk-)Prozesse wesentliche Informationen beinhalten (würden), welche für die folgende Förderung entscheidend sind. In jeder Vereinfachung in Form einer Kategorisierung ist die Gefahr verborgen, der notwendigen individuellen Betrachtung nicht gerecht zu werden.
„In diesem Sinne ist eine Förderdiagnostik pädagogisch und fachdidaktisch motiviert. Es soll konstruktiv eine inhaltliche Grundlage ermittelt werden, die ausreichend Informationen und Vorgaben für die persönliche Unterstützung des betroffenen Kindes und nicht eine Zuordnung zwischen Kindern und Rechenschwächegraden liefert. Deshalb soll ein allfälliger Befund oder Bericht inhaltliche Informationen für Eltern und Schule liefern, die ein konkretes Bild über den Wissens-/Verständnisstand des Kindes im rechnerischen Denken ergeben.” (Grüneis A., 2011, S19)
„So vielfältig wie die Gründe für “Rechenschwäche” sind auch die Erscheinungsformen. Zwar gibt es eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten, es lassen sich immer wieder gleiche oder ähnliche Grundmuster erkennen. Keinesfalls aber kann man von der „Rechenschwäche im Sinne eines bei allen Betroffenen gleichen „Krankheitsbildes” sprechen: Letztlich gibt es ebenso viele „Rechenschwächen” wie betroffene Kinder.” (Gaidoschik M., 2003, S9) Diese Einzigartigkeit jedes Kindes muss sowohl in der Diagnostik, als auch in der Förderung im Vordergrund stehen.
„Zusammenfassend ist festzustellen, dass für die pädagogische Praxis die Kernfrage also nicht lautet, ob es Dyskalkulie gibt oder nicht oder wie man sie exakt definiert und diagnostiziert (außer wenn man daraus Rechte und Pflichten ableiten will/kann), sondern was Lehrerinnen und Eltern tun können, um dem einzelnen Kind weiterzuhelfen und durch Probleme in Mathematik bedingte schulische und psychische Folgeschäden möglichst gering gehalten werden können.” (Grüneis A., 2011, S20)
Die Betrachtung möglicher Ursachen ist für den Praktiker nur insofern von Belang, als die resultierenden Erkenntnisse der Forschung in Folge präventive Maßnahmen ermöglichen. Für das aktuell rechenschwache Kind ist die Suche nach Auslösern und möglichen Verstärkern nur dann von Interesse, wenn deren Veränderung möglich ist.
Mögliche
Ursachenfaktoren:
o
Genetische Ursachen
o Organische
Schwächen, Krankheiten
o Teilleistungsschwächen in den wahrnehmungsverarbeitenden Funktionen
o Verständnislücken in basalen mathematischen Grundlagenbereichen
o Mangelhafte Vermittlung, Ursachen in der Unterrichtsqualität
o Zu schnelles Voranschreiten in den Lehrinhalten
o Fehlende außerschulische Unterstützung
o Psychodynamische Belastungen im kindlichen Lebensumfeld
Eine seriöse Betreuung darf
jedenfalls vor der konkreten inhaltlichen Förderung nicht mögliche körperliche
Ursachen oder Teilleistungsschwächen bzw. hinderliche emotionale Aspekte außer
Acht lassen.
Lange Zeit wurde die Vererbbarkeit mathematischer Schwächen als Erklärungsmodell herangezogen, diese Sichtweise ist jedoch überholt. „Die Vorstellung, dass die Hirnentwicklung durch genetische Programme gesteuert wird, ist mittlerweile als falsch nachgewiesen. Die genetischen Programme sind dafür verantwortlich, dass Nervenzellen produziert werden. Welche davon aber benützt werden und wie sie untereinander vernetzt werden, wird nicht genetisch gesteuert.” (Sindelar B., 2008b, S54) Infolgedessen ist das Augenmerk auf Einflussfaktoren zu richten, die man aktiv gestalten und verändern kann: „Die genetischen Bedingungen zu verändern ist auch heute noch nahezu unmöglich. Was zu verändern ist und worin auch unsere Chance und Hoffnung liegt, ist unsere Möglichkeit, die Rahmenbedingungen zu optimieren. (Sindelar B., 2009d, S5)
Für eine Rechenschwäche gilt Ähnliches wie bei einer bestehenden Legasthenie:
„Die Idee, dass eine Lese-Rechtschreibstörung isoliert von anderen kindlichen
(und elterlichen) Nöten in der Entwicklung zu verstehen sei, ist eine Fiktion,
die die Tatsache, dass der Mensch in jedem Lebensalter und in jeder
Entwicklungsphase ein ganzheitliches Individuum ist, dem auch nur ganzheitlich
gerecht zu werden ist, ignoriert.” (Sindelar B., 2009c, S30) Genau diese
angesprochene Vielseitigkeit eines Menschen muss bei jeder Begleitung von
Kindern mit besonderen Rechenschwierigkeiten in den Fokus gerückt werden.
Beschränkt man sich dabei ausschließlich auf die fachliche Sicht und die rein mathematische Förderung, so besteht das Risiko, andere, unter Umständen gravierendere, Ursachen bzw. Auslöser zu übersehen und keinen Erfolg bei seiner Arbeit zu erzielen oder aufgrund dieser unbeachteten Bereiche an unüberwindbare Grenzen zu stoßen. Durch Förderung in einem Bereich kann man auch Transfereffekte in anderen bewirken. „Die Säulen der kindlichen Entwicklung von Körper, Emotion, Sozialisation und Kognition stehen in permanentem Austausch und beeinflussen einander wechselseitig. Diese dichte Vernetzung und gegenseitige Beeinflussung birgt gleichermaßen Risiko und Chance: Irritationen, Störungen, Traumatisierung in einem Entwicklungsbereich beeinträchtigen die Entwicklung in den anderen Bereichen, dagegen unterstützen Hilfestellungen und Heilungen in einem Bereich die Entwicklung der anderen Bereiche.” (Sindelar B., 2009d, S1) Diese Chancen gilt es zu nutzen, indem man einen multikausalen Erklärungsansätze an den Beginn stellt und auch während der begleitenden Förderung nicht den Blick auf außermathematische Einflussfaktoren verliert.
Auch wenn eine isolierte Rechenschwäche kaum ausschließlich aufgrund
körperlicher Ursachen entsteht, kann die Vernachlässigung entsprechender
Schwächen oder Krankheiten (Astigmatismus, Heterophorie, Hörschwäche,
Schilddrüsenfehlfunktion, …) die mögliche Effizienz der Förderung erheblich
einschränken.
Umgekehrt kann auch die seelische Belastung rund um die rechnerische Problematik zu körperlichen Symptomen führen.
„Somatisierung (ehemals: hysterische Krankheitsbilder) = körperliche Symptome, die eine körperliche Erkrankung nahe legen, aber keine organischen Befunde aufweisen. Reaktion des Organismus auf ihn traumatisierende Lebenserfahrung.” (Sindelar B., 2010, S35) Derartige Symptome können von leichten Muskelverspannungen bis hin zu starken Schmerzen reichen. „Somatische Reaktionen auf seelische Belastungen sind allgemein bekannt, auch ihre individuelle Ausformung ist uns allen bewusst: Bekommt der eine im Stress und im Unglück eher Kopfschmerzen, so kann der andere in derselben Situation mit Bauchschmerzen oder Rückenschmerzen oder Magenschmerzen reagieren.” (Sindelar B., 2008a, S234) Oft treten die angeführten Beschwerden nur im Zusammenhang mit angstbesetzten Ereignissen auf, etwa am Morgen vor einer Schularbeit oder an Tagen, an denen Mathematikstunden sind.
Treten bei Kindern derartige Beschwerden regelmäßig auf, bedarf es vorerst selbstverständlich einer ärztlichen Abklärung. Liegen keine medizinischen Ursachen vor, kann man die körperlichen Probleme als Warnsignale bezüglich der emotionalen Befindlichkeit werten.
Teilleistungsschwächen als partielle Unreifen in den basalen wahrnehmungsverarbeitenden Funktionen (Sindelar B., 2008a) stellen häufig Ursachen für schulische Auffälligkeiten dar. Sie können Schwierigkeiten beim Erlernen des Schreibens, im Erwerb von Lesekompetenz und ebenso Rechenprobleme oder Auffälligkeiten im gezeigten Verhalten bewirken. Zeigen sich bei einem Kind massive schulische Schwierigkeiten, sollte in jedem Fall eine Abklärung möglicher Teilleistungsschwächen erfolgen, insbesondere, wenn sich ähnliche Beobachtungen in mehreren unterschiedlichen Bereichen zeigen. Die Förderung in den diagnostiziert schwachen Wahrnehmungsfunktionen ist parallel zur fachlichen durchzuführen, in Einzelfällen davor.
Auch wenn in der Mathematik bereits deutliche Probleme bzw. Rückstände vorliegen, werden Trainingsprogramme in den entsprechenden Bereichen erforderlich sein. „Ohne Zweifel ist es aber notwendig, bei einem, Kind, welches Auffälligkeiten im Rechnen zeigt, abzuklären, ob und welche basalen Teilleistungsstörungen vorliegen.“ (Gaidoschik M., 2003, S16)
Zumeist wird von Eltern, die ihr Kind zu einer Teilleistungsschwächendiagnostik vorstellen über die Schwierigkeiten im Rechnen hinaus berichtet, dass Auffälligkeiten in der Konzentrationsfähigkeit vorliegen würden. Diese Wahrnehmungen sollten ernst genommen werden, denn: „Voraussetzung für alles Denken und Lernen ist die aufmerksame Bereitschaft, Eindrücke wahrzunehmen.“ (Sedlak F., Sindelar B., 2008, S58)
Fällt das Konzentrieren schwer, kann dieser Umstand sowohl Ursache als auch Auswirkung schulischer Probleme darstellen. Liegen Schwächen in den Aufmerksamkeitsbereichen, der auditiven und/oder visuellen Figurgrunddifferenzierung vor, so bewirken diese, dass weniger Umweltreize aufgenommen werden und das Kind schneller ermüdet, Verständnisprobleme können die Folge sein. Umgekehrt können Rückstände im Lernstoff sowie Verständnisprobleme dazu führen, dass das Kind sich vermehrt anstrengen muss und nicht so lange “bei der Sache bleiben kann” wie andere. Demzufolge ist die sichtbare Konzentrationsproblematik in diesem Fall als Folgeerscheinung zu werten.
Unabhängig von den Gründen, die zu einer schlechten Konzentration führen, muss man den Ursachen auf den Grund gehen. „Konzentration = Hochkontrollierte bewusste Verarbeitung von Reizen, Höchstform willkürlicher Aufmerksamkeit. Beim Erlernen einer Tätigkeit: Konzentration, wenn genau diese Tätigkeit gut gekonnt wird, automatisiert sie und braucht nur mehr wenig Aufmerksamkeitskapazität und kann parallel zu anderen aufmerksamen Tätigkeiten ablaufen (Autofahren, tanzen)” (Sindelar B., 2009b, S 14) Analog gilt für das Rechnen, dass komplexere Aufgaben, die im Kopf gerechnet werden müssen, einfacher gelingen, wenn die Teilrechnungen bzw. Grundlagen bereits automatisiert sind. Sind zum Beispiel alle Zahlenzerlegungen im Zahlenraum 10 bereits gut automatisiert, erfordert die Kopfrechnung 34 + 45 weit weniger Konzentrationsanstrengung, als wenn die Teilrechnungen 3 + 4 und 4 + 5 noch einzeln hochgezählt werden müssen. Dieses Rechenbeispiel erfordert weiters eine bereits vorhandene Sicherheit im Umgang mit Stellenwerten.
Ein Umstand, der in der aktuellen Gehirnforschung immer wieder ins Zentrum von Untersuchungen gerückt wird, ist der enge Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen. „Lernen ist immer, von Anfang an, mit Gefühl verbunden; an den neuronalen Netzwerken, die beim Lernen aufgebaut werden, sind immer auch die Hirnstrukturen, in denen emotionale Erfahrungen gespeichert werden, beteiligt. (Sindelar B., 2009c, S22)
Die Hemmung der Qualität von Lernleistung durch negative Emotionen wird in zahlreichen Forschungsprojekten deutlich. „Lernen = Informationsverarbeitung u. Speicherung in neuronalen Netzwerken, aktives Erfahrungslernen. Affektive Besetzung (= die Ausschüttung diverser Hormone) hat stabilisierenden oder destabilisierenden Einfluss auf die Netzwerkbildung (Synapsen) und somit auf die Effektstärke des Lernakts.” (Vavrik K., 2009a, S10)
Auch in der Elternberatung müssen diese
Querverbindungen zwischen der Leistungsfähigkeit und Lernbereitschaft sowie der
emotionalen Befindlichkeit zum Thema gemacht werden. In diesem
Beziehungsgeflecht liegt häufig viel Potential zur Steigerung der Qualität von
Förderprozessen verborgen, je nachdem, wie das Kind die einzelnen
Übungseinheiten wahrnimmt. „Bei gleichen Erlebnissen wird das eine Kind mutlos,
während das andere sich angespornt fühlt: "Nicht die Erlebnisse eines Kindes
diktieren seine Handlungsweise, sondern die Schlussfolgerungen, die es aus
diesen Erlebnissen zieht" (Adler, 1931).” (Sindelar B., 2009d, S36)
Wie oben ausgeführt, ist eine wichtige Voraussetzung für kognitive Leistungsfähigkeit die emotionale Befindlichkeit und Stabilität. Diese stehen wiederum in engem Zusammenhang mit der Qualität und Sicherheit sozialer Beziehungen. „Notwendigkeit des festen Bindungsgefüges zur angstfreien Bewältigung der Entwicklungsaufgaben im körperlichen, kognitiven, affektiven und sozialen Bereich.“ (Frucht S., S14) Bereits Piaget betont den Stellenwert sozialer Beziehungen: „Piaget hat immer wieder deutlich gemacht, dass die kognitive Entwicklung ohne den Einfluss der sozialen Interaktion nicht verständlich ist.“ (Sindelar B., 2009d, S20)
Wenn Kinder die ihnen übertragenen Aufgaben nicht ausreichend bewältigen können, spielen die bestehenden sozialen Beziehungen eine entscheidende Rolle, wie sie mit solchen Situationen umgehen können. „Die entscheidenden protektiven Faktoren, die vor der Ausbreitung übermäßiger unspezifischer neuronaler Erregung schützen, sind Sicherheit bietende Bindungsbeziehungen“. (Hüther G. nach Vavrik K., 2009b, S8) Bieten die bestehenden Beziehungen Sicherheit und Geborgenheit, kann mit dieser „Rückendeckung” Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit entstehen und derart in schwierigen Momenten mehr Energie zum Erreichen eines Ziels zur Verfügung stehen bzw. entwickelt werden.
Die Familie kann in diesem Zusammenhang ein hohes Maß an Unterstützung bieten, mitunter jedoch leider auch kontraproduktiv wirken. „Kinder wollen gerne mit ihren Eltern zusammenarbeiten und ihnen das geben, wonach sie verlangen. Das verschafft ihnen ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit. Verbote und Kritik bewirken, wie bei Erwachsenen – das Gegenteil.“ (Juul J., 2007, S29)
„Grundsätzlich darf man davon ausgehen, dass Eltern für ihre Kinder das Beste wollen. Oft ist es nur Informationsmangel, der sie daran hindert, ihren Kindern das für sie Adäquate zu geben.“ (Sindelar B., 2008a, S245) Diesen Mangel an Kenntnis um den mathematischen Stand des Kindes, seine emotionalen Bedürfnisse und die Auswirkungen unterschiedlicher Erziehungshaltungen und den familiären Beziehungsqualitäten gilt es in einer guten Betreuung zu reduzieren.
„Beginnt man erst einmal darüber nachzudenken, welche Grundhaltungen man sich wohl zu eigen machen müsste, um sein Gehirn fortan umfassender, komplexer und vernetzter zu benutzen als bisher, … , was noch viel wichtiger ist, er muss mit diesen Menschen in einer engen emotionalen Beziehung stehen. Sie müssen ihm wichtig sein, und zwar so, wie sie sind, mit allem was sie können und wissen, auch mit dem, was sie nicht wissen und nicht können.” (Hüther G., 2010, S123f) Dies gilt aus der Sicht von LehrerInnen ebenso wie aus jener von SchülerInnen. Für Kinder mit massiven Rechenschwierigkeiten ist von besonderer Bedeutung, von ihren LehrerInnen nicht nur in ihrem “schlecht Sein” in einem Bereich wahrgenommen zu werden, sondern als Mensch mit Stärken und Schwächen, der einen respektvollen Umgang verdient. Somit hat auch in der Schule der zwischenmenschliche Aspekt für die Auswirkungen einer bestehenden Schwäche und die Chancen auf Milderung oder Behebung einer Rechenschwäche maßgeblichen Anteil.
Von großer Bedeutung ist natürlich das Wissen der LehrerInnen, das sie über Lernprozesse im Allgemeinen und Rechenschwäche im Speziellen erworben haben. Je fundierter ihre Kenntnisse sind und je mehr Erfahrungen sie besitzen, desto früher erkennen sie beachtenswerte Probleme. Weiters können sie Eltern umfassender aufklären und beraten und mit mehr Verständnis Maßnahmen setzen, die dem einzelnen Kind helfen, besser vom Unterricht zu profitieren bzw. weniger unter den Auswirkungen einer bestehenden Rechenschwäche zu leiden.
Besonders die
Rahmenbedingungen an Schulen erschweren oft die effiziente Arbeit mit Kindern,
die den Anschluss im Rechnen verloren haben. Denn „Dyskalkulie-Therapie
verlangt Einzelarbeit mit dem betroffenen Kind. Sie verlangt zweitens die
Möglichkeit, sich von den Anforderungen des Lehrplans auch für einen längeren
Zeitraum weitgehend freizuspielen.” (Gaidoschik M., 2003, S116) Einzelarbeit ist
an Schulen nur in Ausnahmefällen möglich, und wenn, dann meist nur in geringem
Ausmaß. Die vorliegenden Gegebenheiten an Schulen, wie die SchülerInnenzahlen
pro Klasse, das Ausmaß an zur Verfügung stehenden individuellen Fördereinheiten,
die Anwesenheit geschulten Personals (Förder- und StützlehrerInnen) sind zumeist
leider nicht ausreichend. Dies wird von KlassenlehrerInnen als besonders
belastend empfunden, wenn ihrer Einschätzung nach keine ausreichende
Unterstützung des Kindes durch das Elternhaus zu erwarten ist und die möglichen
schulischen Maßnahmen nicht greifen bzw. ungenügend sind. In diesem Bereich
liegen also einige Möglichkeiten zur Verbesserung vor, allerdings wäre jede
Qualitätssteigerung mit höheren Kosten verbunden. Zur Zeit ist allerdings von
schulpolitischer Seite her kaum eine Bereitstellung entsprechender budgetärer
Mittel zu erwarten, es zeigen sich zur Zeit eher Spartendenzen, das finanzielle
Mittel in anderen Bereichen, u.a. im politischen Vorzeigeprojekt der neuen
Mittelschulen, benötigt werden.
„Kinder wollen von sich aus, von Geburt an, viel
lernen, sie gehen Dingen neugierig auf den Grund. Dabei hilft ihnen eine
reichhaltig gestaltete Umgebung, in der viel zu tun, zu erforschen und zu
begreifen ist. Um sie in ihrer natürlichen Neugier zu unterstützen, sollten
Eltern und Erzieher darauf achten, dass die eigenen Entdeckungen und
Erklärungsansätze der Kinder im Gespräch, Spiel und gemeinsamem Tun ernst
genommen werden, um die Lernfreude der Kinder zu stärken.” (Braun A. K. in
Herrmann U., 2009, S134) Diese natürliche Neugierde und Lernfreude droht bei
Kindern mit deutlichen Rechenschwierigkeiten schnell verloren zu gehen. Die
Lernmotivation ist sicher einer der zentralen Aspekte und bestimmt die Effizienz
von Lernprozessen maßgeblich mit. Die Berücksichtigung aller zuvor behandelten
Faktoren (3.1 bis 3.6) ist dafür entscheidend, ob dafür fruchtbare
Rahmenbedingungen ermöglicht werden können oder nicht.
Wichtige Einflussfaktoren auf die Motivation sind bereits vorhandene Erfahrungen mit Erfolgen und Misserfolgen. „Die erfolgreiche Bewältigung solcher Entwicklungsaufgaben führt zur harmonischen Weiterentwicklung, das Versagen im Rahmen einer Entwicklungsaufgabe macht das Individuum unglücklich, stößt auf Ablehnung durch die gesellschaftliche Umgebung oder führt zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben … Risikofaktoren der Entwicklung: „adaptives Potential“ = individuelle Anpassungsfähigkeit, Resultante von Vulnerabilitätsfaktoren und protektiven Faktoren.” (Sindelar B., 2009b, S 8)
Vulnerabilität bedeutet die persönliche „Verwundbarkeit“, das Risiko einer ungünstigen Entwicklung beim Vorliegen gewisser Bedingungen. Protektive Faktoren könnte man als individuelle Ressourcen bezeichnen, die trotz des Vorliegens derartiger Bedingungen vor einem negativen Entwicklungsverlauf schützen können. Solche Ressourcen können vor allem emotionaler, sozialer und kognitiver Art sein. Starke Bindungen, gute Beziehungen in der Gruppe oder Stärken in gewissen Fähigkeitsbereichen helfen dem Kind in seinem Selbstwert und stellen beispielsweise derartige schützende Faktoren dar, die das adaptive Potential steigern.
„Gerade in der Mathematik ist also die so viel zitierte Vernetzung der zu lernenden Inhalte von größter Bedeutung. Man sieht überhaupt nur, was Mathematik kann und wofür sie gut ist, wenn man ihre Allgemeinheit einmal verstanden hat. Sie ist nicht sinnlos und weltfremd, sondern eher wie ein Schweizer Taschenmesser: immer und überall für alles Mögliche zu gebrauchen.“ (Spitzer M., 2009, S275) Diese Zeilen von Manfred Spitzer treffen den Kern der Problematik. Die Formulierung kann auch als wesentliche Forderung an die Gestaltung jeglicher Förderung rechenschwacher Kinder herangezogen werden. Es geht eben um inhaltliches Verständnis und damit zwingend um Vernetzung von mathematischen Inhalten. In diesem Zusammenhang stehen Eltern und LehrerInnen oft gleichermaßen vor dem Problem, daß aktuelle Inhalte aufgrund des momentanen Wissens- und Könnensstandes des Kindes nicht erfolgreich behandelt werden können. Bleibt dies unberücksichtigt, so ist zu befürchten, dass Erfolge nur kurz anhaltend gelingen werden und sich die Situation noch mehr verschärft, der Rückstand weiter anwächst.
Leider wird oft zu spät entsprechend reagiert. Maßnahmen zur Reduktion der Anforderungen und Schwierigkeiten der Lerninhalte und ein Anknüpfen an den momentanen Stand des Kindes sind eigentlich die einzige sinnvolle Reaktion, wenn der Anschluss bereits verloren gegangen ist. Dazu fehlen aber oft personelle Ressourcen am Schulstandort (entsprechend ausgebildete Lehrer und dafür vorgesehene Werteinheiten). Möglichkeiten, die das Schulsystem in solchen Fällen anbietet (SPF in Mathematik, Klassenwiederholung, zusätzliche Fördereinheiten am Nachmittag) gehen auch oft ins Leere, weil entweder der mögliche Umfang nicht ausreicht oder in zusätzlichen Fördereinheiten wiederum zu hoch angesetzt wird. Es wird oft erneut mit bester Absicht versucht, dem Kind Inhalte in ähnlicher Art und Weise wie bereits zuvor zu vermitteln, ohne auf das bestehende, nicht altersentsprechende Niveau zurückzugehen. Das vermehrte Üben zu Hause oder die hinzugezogene Nachhilfe laufen ebenso Gefahr, aus gleichen Gründen zu scheitern.
Letztlich ist die Chance am höchsten, einem Kind einen Aufholprozess zu ermöglichen, wenn man zu Beginn den mathematischen Ausgangslevel des Kindes ermittelt und auf diesen aufbauend, Schritt für Schritt, Inhalte im Tempo des Kindes neu erarbeitet. Leider wird dies oft recht spät erkannt, was die Ausgangssituation immer schwieriger werden lässt. Einerseits verliert man durch ineffiziente Förderung unnötig Zeit, andererseits können die sich häufig ergebenden Frustrationen und Rückschläge zu Angst und Blockaden bis hin zur totalen Verweigerung und psychosomatischen körperlichen Beschwerden führen. Wenn es einmal so weit gekommen ist, ist die Mathematik nur mehr ein sekundäres Problem.
Die aktuelle Gehirnforschung liefert laufend Belege für die Tatsache, dass die
Qualität von Lernprozessen ganz entscheidend von den zur Zeit des Lernprozesses
bestehenden emotionalen Befindlichkeiten abhängt.
„Biologische Parameter belegen, dass zwischenmenschliche Interaktion und seelisches Wohlbefinden unabdingbare Voraussetzungen sind, um Lernen zu optimieren, Lernen wiederum kann durch die Anwendung von lerntechnischen Kenntnissen optimiert werden. Schule setzt dieses Wissen nicht um, weil die Lehrer all dies nicht gelernt haben.“ (Sindelar B., 2003)
In Zusammenhang mit der Unterstützung rechenschwacher Kinder ist diese
Erkenntnis der großen Bedeutung der das Lernen begleitenden Gefühle besonders
wichtig. In der Schule benötigen sie neben inhaltlich kompetenter Förderung auch
ein großes Maß an Verständnis für ihre Situation; beides setzt entsprechendes
Wissen um mathematische Lernprozesse voraus. Auch Eltern sollten bestmöglich
informiert und in Bezug auf die häusliche Förderung beraten werden, damit auch
sie ihrem Kind gut helfen können und der Situation nicht ohnmächtig gegenüber
stehen. Nur auf diese Weise können sie dabei unterstützt werden, mit der
bestehenden Rechenschwäche ihres Kindes auch emotional zurechtzukommen. Druck
und Streit hingegen machen dies schlichtweg unmöglich.
Kinder mit besonderen Rechenschwierigkeiten bedürfen einer „feineren und genaueren“ Didaktik und Methodik als andere. Übliche Unterrichtssequenzen helfen diesen Kindern oft nicht, neue Lerninhalte zu verstehen oder sie laufen zu schnell ab und geben ihnen zu wenig Zeit für Wiederholungen während sich andere Kinder bereits langweilen. „Die große Rolle von Erfahrung und Übung beim Lernen mathematischer Fähigkeiten und Fertigkeiten wird auch bei internationalen Vergleichsstudien deutlich.“ (Spitzer M., 2009, S254)
Das Unterrichtsprinzip der Individualisierung kann diesem Problem auch nur bedingt entgegenwirken, da eine bloße Vereinfachung des Aufgabengebiets oder ein Mehr von dem, was zuvor bereits nicht geholfen hat, einen bestimmten mathematischen Inhalt zu verstehen, meist nicht zielführend ist.
Entscheidend ist immer, zu erkennen, was ein Kind bei der Bearbeitung von Aufgaben denkt und wie es die Aufgaben gedanklich begleitet. Dies herauszufinden setzt eine persönliche Zuwendung und ein Nachfragen voraus. „…, dass Kinder ganz bestimmte Fehler machen, wenn sie ganz bestimmte Regeln schematisch anwenden und nicht darüber nachdenken, was sie eigentlich tun. Wenn im Mathematikunterricht das sklavische Folgen von Regeln betont wird (und nicht das Nachdenken über die Resultate).“ (Spitzer M., 2009, S267f)
Im Fall einer bestehenden Rechenschwäche ist die Früherkennung das Wichtigste. Einerseits kann man Kindern einen oft leidvollen Weg ersparen, andererseits sind die Erfolgschancen einer Förderung weit höher, wenn bereits sehr früh Probleme erkannt und die notwendige Förderung unter Einbeziehung der Eltern in Form von Aufklärung und Beratung begonnen wird. Dies stellt zwar eine Binsenweisheit dar, bleibt aber leider oft unberücksichtigt.
Früherkennung ist durchaus bereits im letzten Kindergartenjahr möglich (Simultanerfassung der Zahlen 1 bis 4, Serialitätsleistungen, Auffälligkeiten in der Raumorientierung, …). Spätestens jedoch gegen Ende der ersten Schulstufe sollten durch die Schule Maßnahmen zur Früherkennung bei Kindern mit auffälligen Schwierigkeiten gesetzt werden. Dies macht aber eine entsprechende Ausbildung der VolksschullehrerInnen nötig. Derzeit ist das Thema in der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen leider immer noch weitestgehend ausgespart. Erst im Rahmen von Fortbildungen für bereits unterrichtende LehrerInnen können Angebote zu diesem Thema wahrgenommen werden. Diese sind zumeist sehr früh ausgebucht, was den enormen Bedarf in diesem Bereich zusätzlich dokumentiert.
Neben der Früherkennung ist natürlich der Umgang mit entsprechenden Problemen im Unterricht verstärkt in der Ausbildung zum Thema zu machen und zusätzliche Förderangebote an den Schulen sollten vermehrt durch die Schulpolitik zur Verfügung gestellt bzw. finanziert werden.
Zusammenfassend soll nochmals die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes in der Unterstützung rechenschwacher Kinder betont werden. „Kindliche Entwicklung ist immer als das Zusammenspiel von Reifungsfaktoren, Anlage und Ausstattung, und den Einflüssen des sozialen Umfelds zu verstehen. … Dabei ist die Position, die bereits die Individualpsychologie Alfred Adlers kennzeichnet, nämlich dass jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit in der unteilbaren Einheit von Körper, Geist und Seele zu erkennen ist, als Ausgangspunkt und Prämisse jedes entwicklungspsychologisches Zuganges zu verstehen. Bildungspolitik müsste ihrer Verantwortung nachkommen und Rahmenbedingungen schaffen,“ (Sindelar B., 2009d, S3)
Neben einer ganzheitlichen Betrachtung von Ursachenfaktoren und der jeweils erforderlichen Stärkung des Kindes in emotionaler, sozialer und kognitiver Hinsicht kommt der Früherkennung und dem möglichst frühen Einsatz geeigneter Maßnahmen größte Bedeutung zu.
Es liegt in der Verantwortung der Schulpolitik besonders durch die Erhöhung der inhaltlichen Qualität und des Umfangs der LehrerInnenausbildung (das Wissen über Rechenschwäche und möglicher effizienter Fördermaßnahmen betreffend) und in der erhöhten Bereitstellung budgetärer Mittel für die schulische Zusatzförderung betroffener Kinder hier längst fällige Verbesserungen zu ermöglichen.
Auf diese Weise wäre die Chance auf die Früherkennung einer Rechenschwäche erhöht, und LehrerInnen könnten auch besser wahrnehmen, was Kinder aufgrund des gegebenen Könnensstandes in Mathematik mit Sicherheit noch nicht leisten können. Denn oft wird genau dieser Umstand, nämlich, dass ein Kind den aktuellen Stoff aufgrund fehlender Grundlagen noch gar nicht befriedigend erarbeiten und verstehen kann, nicht erkannt bzw. berücksichtigt. So kommt es in Folge zur inhaltlichen Überforderung, zur verständlichen Ablehnung durch das Kind und einer wachsenden emotionalen Belastung. Der erste Schritt einer guten Unterstützung ist aus meiner Sicht, derartige Grenzen zu realisieren und ineffiziente Übungsdurchgänge in aktuellen Übungsbereichen durch Bearbeitung mangelhaft verstandener Grundlagenbereiche zu ersetzen.
Anhaltende Erfolge können nur erzielt werden, wenn großer Wert darauf gelegt wird, dass Kinder die aktuellen Inhalte verstehen und jeweils mit den zuvor bearbeiteten vernetzen können, bevor zum nächsten Inhalt übergegangen wird. Auf diese Weise können auch emotionale Belastungsfaktoren entschärft werden. „Was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr.” Marie Curie (1867-1934)
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